Entscheidungen in der Anwaltskanzlei
Täglich 40 Entscheidungen vor dem Aufstehen
Haben Sie eigentlich sich schon einmal klar gemacht, dass Sie jeden Morgen neu alle Begleitumstände Ihres kommenden Tages selbst und allein entscheiden?
Wohin Sie gehen? Mit wem? Welchen Beruf Sie heute ausüben? Was Sie auch heute wieder auf morgen verschieben? Und warum Sie das tun? Mit wem Sie streiten? Mit wem Sie sich vertragen? Mit wem Sie lachen? Wen Sie anschweigen? Welche Fähigkeiten Sie heute nicht zeigen? Welche dagegen im Überfluss? Was Sie nachher in der U-Bahn lesen? Wen Sie auch heute wieder nicht zurückrufen? Wen Sie heute grüßen und wie das geschieht? Was Sie über Ihren Kollegen und sich heute denken? Wann, wohin, in welcher Verfassung und mit wem Sie zurückkehren? Und wozu? Und was in der Zwischenzeit mit und in Ihnen passiert?
- Durch Entscheidungsautomatisierung trifft ein gesunder Mensch etwa 20.000 Entscheidungen pro Tag, also nach Abzug von 8 Stunden Schlafenszeit etwa alle drei Sekunden eine.
Würden diese Entscheidung ein sorgfältiges Abwägen benötigen, würde das Gehirn platzen. So genannte „Bauchentscheidungen“ garantieren den Lebensrettenden und 60 Millionen Jahre alten Energiespar-Modus des Gehirns aus der Zeit der Vierfüßer.
Das Gehirn wählt immer den Automatismus
„Was ich schon kann, das lass ich auch ran“: Vor allem anderen ist jedes Säugetiergehirn an Einfachheit interessiert. Es wird zur Problemlösung immer den Versuch unternehmen, auf Gelerntes und vielfach Erprobtes zurück zu greifen, um Energie zu sparen.
Ein starker Wille, gute Lehrer und unbeirrtes Üben sind notwendig, um alte Verhaltensmuster zu „überlisten“ und für immer zu ersetzen.
Der Automatismus des Säugetiergehirns hat Vorteile und Nachteile:
Vorteil durch konstruktiven Automatismus: Wenn alte Erfahrungen ausreichen
Entscheidungs-Automatismus ist erstrebenswert bei allen Verhaltens-Entscheidungen, als deren Grundlage „altes Wissen oder Können“ ausreichen, also z.B. beim Skat („Wie gewinnt man einen Grand ohne Dreien in Mittelhand?“), bei der Personalauswahl in der Anwaltskanzlei („Fristenkontrolle ist einfacher zu lernen als Servicebereitschaft; unsere Empfangsassistentin kommt deshalb aus einem 4-Sterne-Hotel“) oder bei der Reaktion auf einen Polizeieinsatz nach Unfall („Bloß nicht abhauen; sonst kommt noch Fahrerflucht dazu.“)
Planen, Entwickeln, Überprüfen und Abwägen einer Entscheidung sind hier Zeitvergeudung: das alte Wissen reicht.
Nachteil durch destruktiven Automatismus: Wenn alte Erfahrungen nicht ausreichen
Entscheidungs-Automatismus ist dagegen ökonomischer Selbstmord, wenn Anforderungen von außen neuer sind als die Erfahrungen der Akteure.
So produziert z.B. ein Anwalt, der „vollautomatisch“ mit seinen alten, „früher doch auch passenden“ Lernerfahrungen („Einrichtung seines ersten elektronischen Kanzleikalenders im Jahr 2005“) auf neue und nicht vergleichbare Technologien wie etwa „Legal Tech“ reagiert, einen wirtschaftlichen Nachteil.
Planen, Entwickeln, Überprüfen und Abwägen einer Entscheidung sind hier Überlebenswichtig: das alte Wissen reicht nicht.
Entscheidungen kann man lernen, Entscheidungsfreude kann man entwickeln
Analog zur Überzeugung von Anwälten in den 1990er Jahren, für gute Kommunikation, gute Zeugenvernehmungen und gute Verhandlungen benötige man „Talent“, hält sich bis heute hartnäckig die äußerst abwegige Idee, als Entscheider müsse man „geboren sein“.
Hinter beiden Grundüberzeugungen steckt der Glaubenssatz: „Die ganz wichtigen Dinge im Leben kann man nicht lernen“. Das Gegenteil trifft zu:
Wer „Entscheidungen treffen“ lernen will, der lernt das.
Talent erleichtert zwar Schauspielern, Mathematikern, Bodenturnern und vielen anderen ihren Job. Wer jedoch eine Sache unbedingt lernen will, der braucht lediglich rechtzeitig einen guten Lehrer.
„Richtiges Entscheiden“ ist leider kein Schulfach, und so greifen noch heute Entscheider in Kanzleien auf historisch gewachsene Entscheidungsstrukturen, konfuse Gewohnheiten und auf die Arbeitsplatz vernichtende „Wie-Bin-Ich-Heute-Drauf-Spontaneität“ zu.