Delegationsfehler in der Anwaltskanzlei
Kongruenz in Mathematik, Rollen und Verhaltensweisen
Wer erinnert sich nicht an den Moment, als erstmals Zirkel und das nagelneue Geodreieck ausgepackt und auf kariertem Papier eingesetzt wurden? Dazu die glänzenden Augen des Mathelehrers in der ersten Stunde Geometrie: „Wodurch sind Dreiecke kongruent[1]?“
Zwei Seitenlängen und den eingeschlossenen Winkel oder eine Seitenlänge und zwei der Winkel machten ein Dreieck deckungsgleich, während inkongruente Dreiecke überstehen, Wichtiges verdecken oder gleich ganz aus dem Bild fallen.
Ähnlich läuft das auch im geometrisch nicht skalierbaren Leben:
Die Geschichte von Maries Papa
Kaum aus der Kanzlei nach Hause gekommen, wird aus dem hart verhandelnden Taktiker und gewieften Anwalt für Erbrecht Dr. Karl Waliczek im dreiteiligen Anzug ein herzzerreißend süßer Papa von Marie mit der Rückennummer 9. Marie ist neuerdings vier Jahre alt und hat allein mit einer Kordel ein Bolzfeld mit Tor aus zwei Einkaufskörben im Garten aufgebaut.
Die schlabberige Bolzkluft des Mittelstürmers und Torwarts in Personalunion ersetzt Krawatte und Anzug, eine Trillerpfeife verkündet den Spielbeginn am Rosenbeet, und schon in Halbzeit eins hatte er sich gegen mehrere von Maries knallhart geschossenen Elfmetern geschlagen geben müssen.
Zwischen den Stühlen sitzen? Nur für Zirkusmitarbeiter erstrebenswert
Wie viele Jahre Maries Papa während einer Erbrechtsverhandlung an die Pflichten seiner Vaterrolle und während des Packens von Maries Jausensackerl (österr. für „Brotdose“) an Übergangsklauseln im nächsten Erbvertrag gedacht hatte, wusste er bei Beginn seines Coachings nicht mehr zu sagen.
Jedenfalls hatte Rechtsanwalt Dr. Waliczek durch seine Teilnahme in einem österreichischen Coaching-Camp den sensationellen Aufstieg in die Erste Bundesliga der immer kongruenten Rollentauscher geschafft.
Er weigert sich seitdem, eigene Energieverluste durch unsinniges Zwischen-Den-Stühlen-Sitzen zu riskieren und trennt seitdem alle seine Rollen extrem scharf voreinander.
Inkongruenz durch Rollenkonfusion
Dies ist der Klassiker für Rolleninkongruenzen in einer Anwaltskanzlei: Der Anwalt kommt nach einem anstrengenden und ärgerlichen Mandanten-Telefonat aus seinem Zimmer in das Vorzimmer und trifft dort seine Assistentin an.
Automatisch ist der Anwalt – in Gegenwart seiner Assistenz – in der Chefrolle. Jede seiner Verhaltensweisen wird nun von der Assistenz als zu ihr gehörig eingestuft werden.
- Coach-Info zu Rollenkonfusion
Wenn der Anwalt seinen Telefon-Ärger aus der vorigen Rolle (Rechtsberater) in die nächste Rolle (Chef) transportiert – hier: in das Büro seiner Assistentin – wird diese Assistentin annehmen müssen, dass sie es ist, die etwas falsch gemacht hat.
Unwägbarkeiten und Missverständnisse entstehen dadurch zwischen Chef und Assistenz. Wenn der Chef mit ihr über sein Verhalten nicht selbstkritisch spricht, wird sie spätestens während der nächsten Mittagspause in der Bäckerei zu ihren Kolleginnen sagen: „So launisch ist der heute wieder, total unberechenbar und ungerecht.“
Inkongruent besetzte Rollen führen zu Kündigungen und Streit
Und so führen inkongruente Rollenbesetzungen zu inneren und äußeren Kündigungen, Streit, einem miesen Arbeitsklima und schließlich, sobald das mentale System aller Beteiligten keinen anderen Ausweg mehr kennt, zu Krankheiten.
Inkongruenzen treten immer dann auf, wenn das Verhalten nicht zur Rolle, die Fähigkeiten nicht zu den Werten und die Umgebung nicht zu den Zielen passt.
Einige Beispiele:
- Wer als Unternehmer wartet, bis ein Kunde einen Bedarf signalisiert, gefährdet seine Umsätze.
- Wer als Ehemann mit der Ehefrau genauso spricht wie mit dem störrischen Mandanten, überlädt die Ehe mit Konflikten.
- Wer als Verhandler aus wohlüberlegten strategischen Gründen rücksichtslos gegen die Interessen der Gegenseite agiert hat, produziert mit demselben Verhalten im Auto auf dem Rückweg in der Rolle des Verkehrsteilnehmers Tote und Verletzte.
- Wer im privaten Umfeld immer „Der Tolle“ sein will, verliert Freunde, Ansehen und langfristig auch seine Selbstachtung.
- Wer eine Führungskraft ist und nicht delegiert bzw. das Delegierte nicht kontrolliert, gefährdet seine Umsätze.
- Wer als Einzelanwalt keine Kooperationen oder strenge Spezialisierungen anstrebt, entfernt sich vom Markt..
- Wer als Anwalt dem Geschäftsführer einer GmbH dasselbe Sprachniveau angedeihen lässt wie dem arbeitslosen Waldarbeiter, nimmt den Rückgang seiner Umsatzzahlen in Kauf.
- Wer als Affairepartner seiner Geliebten dieselben Verhaltensweisen zumutet wie seiner Ehefrau, beendet die Affaire.
- Wer sich als Teamkollegin im neuen Büro ebenso zurückzieht wie damals als Einzelanwältin, entzieht seinen Partnern das Vertrauen.
- Wer als Unternehmer keine Strategie einrichtet, verliert Geld und Geltung.
- Wer als Mutter für die eigenen Kinder nicht Mutter, sondern nur Freundin sein will, produziert Überanpassung, Selbstzweifel und Aggression bei den Kindern.
Typische Inkongruenzen in typischen Anwaltsrollen
Sind Sie Unternehmer oder Kanzleiinhaber? Der Erste führt seine Kanzlei, der Zweite hat sie lediglich.
In Anwaltskanzleien sind Rollenkonflikte im Alltag spürbar. Die Symptome sind leicht zu erkennen, untereinander verwandt und haben ihre Ursache stets in der inkongruenten Rollenbesetzung.
Die folgenden Aussagen indizieren so gut wie immer Inkongruenzen in der Chefrolle:
- „Eine Hand weiß nicht, was die andere tut“ (Anwalt über seine Kollegen)
- „An allen Ecken und Enden fehlen Anweisungen“ (Assistentin über Anwälte)
- „Keiner übernimmt die Verantwortung“ (Kanzleimanager über Partner)
- „Da wird mit der heißen Nadel gestrickt“ (Angestellter Anwalt über Partner)